Mein Weg zur Diagnose: Leben mit chronischer Migräne
Auf alten Fotos erkenne ich sofort, welche Tage ich unbeschwert genießen konnte und an welchen ich mich durch Schmerzen kämpfen musste. Manchmal ist es der Blick, manchmal die Körperhaltung. Der Schmerz hat sich in mein Gesicht geschrieben.
Als Kind verschwieg ich meine Kopfschmerzen lange. Ich dachte, das sei normal. Nur wenn es wirklich unerträglich wurde, erzählte ich meinen Eltern davon. Dann gab es einen kalten Waschlappen für die Stirn und Ruhe im Bett – mehr nicht.
Mein Vater sagte oft: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“ Das prägte mich. Es bedeutete: Zähne zusammenbeißen, durchhalten, lächeln – egal, wie schlimm es war.
Auch meine Eltern litten unter Kopfschmerzen, besonders mein Vater. Vielleicht erschien es mir deshalb so selbstverständlich, damit zu leben. Es war für mich Teil des Alltags. Niemand sprach darüber und niemand hinterfragte es.
Kopfschmerzen wurden Alltag
So vergingen die Jahre. Ich lernte, mit den Schmerzen zu leben – oder besser gesagt: sie zu ignorieren. Freiverkäufliche Schmerzmittel, viel Schlaf, ausreichend Wasser, kalte Tücher auf der Stirn – und immer die Hoffnung, dass es am nächsten Tag besser werden würde. Manchmal war es das auch. Aber irgendwann änderte sich etwas.
Ich erinnere mich genau an den Moment, als die Kopfschmerzen plötzlich nicht mehr verschwanden. Zwei Tage ununterbrochener Schmerz – das war neu. Ich war wütend auf mich selbst. Warum war ich nicht längst zum Arzt gegangen?
Ich verpasste Treffen mit Freunden, sagte Verabredungen ab und fühlte mich häufig missverstanden. Ständig hatte ich das Gefühl, sie könnten denken, ich hätte einfach keine Lust. Aber das stimmte nicht – ich konnte nur nicht.
Der Druck wurde größer – sowohl in meinem Kopf als auch von außen, wodurch in mir das Gefühl entstand, immer funktionieren zu müssen. Ich dachte, ich dürfe nicht klagen und müsste auf keinen Fall unzuverlässig wirken.
Migräne-Symptome erkennen: Mehr als „nur Kopfschmerzen“
Zwischen meinem 18. und 21. Lebensjahr verschärfte sich alles. Die Kopfschmerzen kamen häufiger und sie kamen mit den Symptomen einer Migräne. Die Beschwerden erfassten meinen ganzen Körper. Es war nicht mehr nur ein Schmerz im Kopf, sondern auch
- Licht- und Lärmempfindlichkeit
- Übelkeit und Erbrechen
- Geruchsempfindlichkeit
- Schwindelgefühle
- Gereiztheit und starke Konzentrationsprobleme
Ich fühlte mich wie fremdgesteuert. Bei einem Gespräch mit einem guten Freund, der selbst Migränepatient ist, schilderte ich meine Symptome. Er erkannte sie sofort und vermutete, dass es sich um Migräneattacken und nicht bloß um Kopfschmerzen handeln könnte. Daraufhin suchte ich meinen Hausarzt auf, beschrieb die Beschwerden, und erhielt Triptane – schmerzlindernde Wirkstoffe, die zur Akutbehandlung von Migräneattacken eingesetzt werden
„Wenn die helfen, ist es Migräne.“
Und sie halfen. Plötzlich war ich wie ausgewechselt, zumindest für ein paar Stunden. Ich fühlte mich wie ein neuer Mensch. Doch niemand erklärte mir, was Triptane eigentlich sind, wie sie wirken, und welche Risiken mit ihnen verbunden sein können. Ich nahm sie regelmäßig, lief sogar einen Halbmarathon damit, als wäre nichts. Ich wollte weiter mithalten. Ich wollte funktionieren.
Therapie bei Migräne: Der lange Weg zur richtigen Hilfe
Mit der Zeit wurden die Migräneattacken häufiger und ich suchte Hilfe, wo immer es möglich war: bei Hausärzt*innen, Neurolog*innen, Heilpraktiker*innen, Osteopath*innen, Zahnärzt*innen und Augenärzt*innen.
Ich probierte alles Mögliche aus – Akupunktur, chinesische Kräuter, Schienen gegen Zähneknirschen, neue Brillen, Massagen, Meditation. Sogar meine Haare ließ ich abschneiden – in der Hoffnung, dass die Migräneattacken nachlassen würden, falls das Gewicht der Haare eine Ursache wäre.
Doch nichts half dauerhaft. Stattdessen nahm ich immer mehr Medikamente. Ich lebte zwischen Schmerz und Hoffnung und rutschte langsam in den Medikamentenübergebrauch. Mein Körper war erschöpft, mein Geist ausgebrannt. Ich machte Fehler bei der Arbeit, konnte mich kaum noch konzentrieren, vergaß Dinge – und fühlte mich zunehmend wertlos.
Spezialklinik für Migräne: Mein Wendepunkt
Ich wusste, so konnte es nicht weitergehen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und bat meine Neurologin um eine Überweisung in eine Migräneklinik. Ich hatte Angst, nicht ernst genommen zu werden. Angst, dass man sagen könnte: „Das ist doch nur Migräne.” Ich schämte mich fast, um Hilfe zu bitten, aber gleichzeitig schöpfte ich neue Hoffnung.
Nach sechs Monaten Wartezeit war es so weit: Ich wurde in der Klinik aufgenommen. Ich war nervös, aufgeregt, ängstlich und voller Erwartung. In der Klinik hatte ich erstmals die Gelegenheit, meine Geschichte ausführlich zu schildern. Die Ärztin hörte aufmerksam zu, ohne mich zu unterbrechen, sodass ich offen über meine Kindheit, die Schmerzen, meine Sorgen und die damit verbundene Scham sprechen konnte.
Und dann bekam ich die Diagnose: Chronische Migräne mit Aura.
Leben mit Migräne: Akzeptanz, Rückzug und mein Camper
In der Klinik lernte ich viel über Migräne, über Trigger und Reizverarbeitung, über das besondere Migränegehirn. Ich erfuhr, dass Migränepatient*innen oft sensibler sind, emotionaler, schneller überfordert, aber auch kreativer, tiefgründiger, empathischer. Das hat mir geholfen, mich selbst besser zu verstehen und mich selbst zu akzeptieren.
Nach der Klinik begann für mich ein neuer Lebensabschnitt. Ich lernte, dass Migräneattacken ein Teil meines Lebens sind, aber nicht mein ganzes Leben bestimmen. Ich lernte, bewusste Pausen einzuplanen und „Nein“ zu sagen. Und ich lernte, mir selbst zu erlauben, Schwäche zu zeigen.
Ein Wendepunkt war mein Camper. Er ist mehr als ein Auto, er ist mein Rückzugsort. Mein kleines Zuhause auf Rädern. Mein Safe Space. Hier kann ich mich zurückziehen, wenn eine Migräneattacke kommt. Hier kann ich lesen, schlafen oder einfach nur sein. Mit meinen beiden Hunden Henriette und Kasimir finde ich in der Natur Ruhe, Klarheit und Erdung.
Die Freiheit, jederzeit Pausen einzulegen, macht einen riesigen Unterschied für mich. Wenn ich unterwegs merke, dass es nicht mehr geht, ist mein Camper da. Morgen zum Beispiel möchte ich über den Markt in Swinemünde schlendern. Und wenn die Migräne mich doch einholt, weiß ich, mein Rückzugsort ist ganz in der Nähe.
Mein Fazit: Migräne annehmen. Und du bist nicht allein.
Mein Weg zur Diagnose war lang. Von Kindheitserinnerungen über Jahre des Zweifelns, der Irrwege, des Ausprobierens bis hin zur Klarheit. Heute weiß ich, ich bin nicht schwach, nur weil ich Pausen brauche. Ich bin nicht faul, nur weil ich manchmal absagen muss. Und ich bin nicht allein.
Migräne ist eine ernsthafte Erkrankung. Kein „normaler Kopfschmerz“. Sie beeinflusst das ganze Leben, aber sie muss es nicht bestimmen. Ich habe gelernt, mir Freiräume zu schaffen. Mit gezielten Strategien und einem bewussten Umgang kann ich mein Leben nach meinen Bedürfnissen gestalten – im Einklang mit der Migräne und nicht gegen sie.
Eure Lena mit Henriette und Kasimir
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